Erzählen ist ein Instrument, mit dem der Mensch sich die Welt erschließt, sich zu ihr in Beziehung setzt, Sinn stiftet. In der Literatur, aber nicht nur dort, fällt das Erzählen oft zusammen mit dem Erinnern, einer anderen menschlichen Fähigkeit, die es erlaubt, über sich und andere zu reflektieren, sich mithin als soziales Wesen in einem bestimmten historischen Kontext zu begreifen. Solche Gedächtniskonstruktionen sind aber nie frei von Imagination; das Erfinden gehört genauso zum Erzählen, wie das Erinnern, aus dem es hervorgeht.
Der Zusammenhang zwischen Erinnern, Erzählen und Erfinden ist, das zeigt ein Blick auf jenes interdisziplinäre Forschungsfeld, aus dem sich die Memory Studies entwickelt haben, vielschichtig und kompliziert. Dieser Band beschränkt sich auf den Teilaspekt der Literatur und stellt unterschiedliche Zugangsmöglichkeiten vor. Die Beiträge sind aus einem Symposium niederländischer und deutscher Literaturwissenschaftler hervorgegangen, in dem der Komplex des Erzählens und Erinnerns in exemplarischen Studien zur deutschsprachigen Literatur beleuchtet wurde.
INHALT
Yvonne Delhey & Hannes Krauss
Erinnern, Erfinden, Erzählen
Hannes Krauss
Erfundene Erinnerung. Zu den Romanen Joachim Geils
Joachim Geil
Deutsche Oper – Ku’damm – Bad Ischl. Mit Erinnerungen pflastern
wir den Weg. Die Erinnerungen der anderen sind auch meine Erinnerungen
Rolf Parr
Erinnern, Wiederholen, Erzählen. Peter Handkes Die Wiederholung und
Friederike Kretzens Natascha, Véronique und Paul
Anna Seidl
Historiographische Chronik und literarisches Erzählen: W. G. Sebald
Susanne Scharnowski
Das Dorf als Ort des Herkommens und als Erinnerungsort. Strategien der
Erinnerung und der Erzählung in Christoph Peters‘ Stadt Land Fluß und
Katharina Hackers Eine Dorfgeschichte
Tonia Marişescu
Erinnerungsbilder bei Herta Müller
Jeroen Hermsen
Die eigene Geschichte erzählen: Wolfgang Hegewalds
Fegefeuernachmittag (2009)
Yvonne Delhey
Erzählen als Akt kollektiver Selbstbehauptung. Exemplarische
Überlegungen zur literarischen Erinnerung an die DDR:
Ingo Schulzes Briefroman Neue Leben (2005)
Janne van der Loop
Erzählend erinnern. Erzählstrategien bei Fritz Rudolf Fries
Chiara Cerri
Erinnerungserzählungen in deutschsprachigen Geschichtscomics
Kerstin Wilhelms
Theater des Lebens. Die Raumzeit des Theaters in
Karl Philipp Moritz‘ Anton Reiser
Barbara Bausch
Poetik des Erinnerns. Erinnern als Motiv und Methode
in Poetikvorlesungen
Dr. Yvonne Delhey arbeitet seit 2003 als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Radboud Universiteit Nijmegen (NL). Sie studierte Germanistik, Geschichte und Politologie in Aachen und Amsterdam. Dissertation zum Thema Reformsozialismus und Literatur in der DDR am Duitsland Instituut Amsterdam (DIA). Die Dissertation erschien unter dem Titel „Schwarze Orchideen und andere blaue Blumen“ (2004) und enthält umfassende exemplarische vergleichende Studien zum Werk Christa Wolfs und Wolfgang Hilbigs.
Forschungsthemen innerhalb der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur: autobiographische Texte, Identitätskonstruktionen und Raumkonzeptionen. Dazu kommt ein starkes Interesse für interdisziplinäre Ansätze, das u.a. die Soziologie, die Geschichtswissenschaft und die Kulturwissenschaft einbezieht. Aktuelle Publikationen zu Ingeborg Bachmann (Performanz und performativer Raum in der Erzählung) und Judith Schalansky (Aktualität des Bildungsromans), Klaus Böldl (Gehen und Schreiben), Ilija Trojanow (Reiseliteratur, Identität und Alterität) und Annett Gröschner (literarischer Journalismus der ‚kleinen Form’, Raumwahrnehmung und Gedächtnis).
Zusammen mit Sabine Jentges entwickelte sie verschiedene interkulturell und interdisziplinär ausgerichtete Projekte zur Wahrnehmung des urbanen Raums. Siehe dazu: Chiara Cerri/Sabine Jentges (Hg.): Raumwahrnehmung, interkulturelles Lernen und Fremdsprachenunterricht. Baltmannsweiler: Schneider-Hohengehren 2015; Info DaF Themenschwerpunkt: Internationale Kooperationen in der Lehre im Fach Deutsch als Fremdsprache (2 Bände), Heft 41 (2014)/5 und 6: http://www.daf.de/archiv.htm
Dr. Hannes Krauss arbeitete nach dem Studium der Germanistik und Geschichte (in Tübingen und Berlin) zunächst als Lehrer in Berlin und dann bis zu seiner Pensionierung (2011) als Akademischer Rat an der Universität Duisburg-Essen (Arbeitsschwerpunkte: deutschsprachige Gegenwartsliteratur, Literatur der DDR, Literatur im Fremdsprachenunterricht); er promovierte an der Universität Bremen mit „Studien zur Erzählliteratur der DDR“.
Publikationen u.a. über Jurek Becker, Friedrich Christian Delius, Wilhelm Genazino, Christoph Hein, Uwe Johnson, Uwe Kolbe, Hans Joachim Schädlich, Klaus Schlesinger, Hans-Ulrich Treichel, Fred Wander, Christa Wolf, DDR-Literatur und Moderne, Literatur der Wende, Fußball und Literatur.
Als Gastdozent unterrichtete er in Italien, den Niederlanden, Norwegen, Polen, Schottland, den USA und – seit einiger Zeit regelmäßig – an verschiedenen russischen Universitäten; 2015 wurde ihm von der Fernöstlichen Staatlichen Humanwissenschaftlichen Universität in Chabarowsk eine Ehrenprofessur verliehen.